Freies Lernen an freien Schulen

Khalil Gibran (1910):

Eure Kinder sind nicht eure Kinder.
Sie sind die Söhne und Töchter
der Sehnsucht des Lebens nach sich selber.
Sie kommen durch euch, aber nicht von euch.
Und obwohl sie mit euch sind,
gehören sie euch doch nicht.
Ihr dürft ihnen eure Liebe geben,
aber nicht eure Gedanken,
denn sie haben ihre eigenen Gedanken.
Ihr dürft ihren Körpern ein Haus geben,
aber nicht ihren Seelen,
denn ihre Seelen wohnen im Haus von Morgen,
das ihr nicht besuchen könnt,
nicht einmal in euren Träumen.
Ihr dürft euch bemühen,
wie sie zu sein, aber versucht nicht,
sie euch ähnlich zu machen.
Denn das Leben läuft nicht rückwärts,
noch verweilt es im Gestern.
Ihr seid die Bogen, von denen eure Kinder
als lebende Pfeile ausgeschickt werden…

Probleme mit dem Status Quo des Schulsystems

Eigentlich möchte ich in diesem Artikel gar nicht so sehr darauf eingehen, warum der Status Quo unseres Schulsystems weit davon entfernt ist, Kindern eine optimale Lernumgebung zu bieten. Das wurde in anderen Beiträgen bereits ausführlich dargestellt: „Warum das Lernen in normalen Schulen uneffektiv ist“ & „Staatliche Schulen sind Gefängnisse für Kinder“. Um den Kontrast zum freien Lernen an freien Schulen besser nachzuvollziehen, sollen dennoch kurz ein paar Probleme an Regelschulen aufgezeigt werden.

Grundsätzlich kann man sagen, dass in den normalen Schulen genau das nicht gefördert, wenn nicht gar systematisch zunichte gemacht wird, was Kinder zum Lernen antreibt: die Neugierde. Sobald sich die Sinnesorgane des Menschen im Mutterleib ausgebildet haben, beginnt das kleine Geschöpf zu lernen, zum Beispiel Stimmen und Geschmäcker zu differenzieren. Kaum geboren, fängt es an zu interagieren, lernt sich auszudrücken, zu laufen, zu sprechen und vieles mehr – ganz ohne Unterricht oder Schulbücher. Dabei braucht es niemanden, der es dazu antreibt. Es existieren bestimmte sensible Phasen, in denen das Kind ganz natürlich neue Fähigkeiten und Fertigkeiten dazulernt. Die angeborene Neugierde treibt es an, die Welt zu erkunden und zu verstehen. Warum sollte das in einem Alter von 6 Jahren auf einmal anders sein?

Aber auch der zeitliche Rahmen, den Regelschulen vorgeben, hat weder Hand noch Fuß. Das frühe Aufstehen und die starren Stundenpläne, die sich in keiner Weise dem natürlichen Rhythmus verschiedener Kinder anpassen, sind laut der Ansicht vieler Eltern und auch Experten äußerst strapaziös. Gepaart mit einem enormen Leistungsdruck ist die Folge nicht selten ein ängstliches, unausgeglichenes oder krankes Kind. Statt die Welt zu entdecken und jeden Tag 1000 neue Dinge zu lernen, ziehen immer mehr Schulkinder sich in einen Kokon aus Verhaltensauffälligkeiten, Ängsten oder gar Depressionen zurück. Gerade letzteres ist eine allgemein immer häufiger gestellte Diagnose bei Erwachsenen in Deutschland. Wäre es nicht sinnvoll, statt mit vielen Medikamenten und Therapien zu behandeln, präventiv vorzubeugen? Anstatt strengen Gehorsam zu fordern und dem Kind in verschiedensten Fächern Aufgaben aufzubürden, denen es im jeweiligen Moment womöglich gar nicht gewachsen ist, könnte man doch auch die natürliche Fröhlichkeit der Kinder fördern. Wir könnten ihren Entdeckergeist und ihre von Innen kommende Begeisterung zum Lernen unterstützen, um einen selbstbewussten, selbstbestimmten und glücklichen Menschen heranwachsen zu lassen.

Regelschulen sind nicht mehr zeitgemäß

Gerade auf das Heranziehen vielseitig kompetenter und dabei fröhlicher Menschen ist unser momentanes Schulsystem aber gar nicht ausgelegt. Wir folgen immer noch dem Drill aus dem preußischen System, in dem Menschen herangezogen werden sollten, die blind gehorchen und glauben, was Autoritäten ihnen erzählen. In einem freien und demokratischen Land ist dies aber gar nicht das, was wir in Zukunft brauchen. Es werden vielmehr selbstbewusste, kritische, eigenständig denkende Persönlichkeiten benötigt, um ein humanes Zusammenleben im Einklang mit unserer Welt zu gestalten. Davon abgesehen fordert auch der Arbeitsmarkt zunehmend mehr Mobilität, Flexibilität, Kreativität und eigenständiges, lebenslangen Lernen. In diesen Bereichen legt eine Regelschule nur leider gar keine Grundlagen.
Es wird ein Lehrplan diktiert und Druck in Form von Zensuren ausgeübt, um allen Schülern genau das Gleiche in die Köpfe einzutrichtern. Und nach der Schule soll der junge Erwachsene auf einmal wissen, wo seine Interessen und Stärken liegen. Er muss sich für ein Studium, eine Ausbildung oder einen Beruf entscheiden und hat dabei kaum Anhaltspunkte, was für ihn geeignet wäre. Es sind gegebenenfalls Fingerfertigkeiten gefragt, die vorher nie geübt wurden. Auf einmal muss man seine Weiterbildung selbst steuern, wissen, was einen interessiert und wie man sich neue Fähigkeiten aneignet. Lebenslanges Lernen wird heute ganz groß geschrieben. Doch die Basis dafür wird in der Schule kaum vermittelt.

Freies Lernen - eine Alternative

Es gibt Konzepte, die sich als Alternative zum Frontalunterricht, wie er in Schulen am häufigsten praktiziert wird, verstehen. Persönlichkeiten wie Maria Montessori oder Mauricio und Rebecca Wild mit ihrer Pesta-Schule in Ecuador haben fundierte Theorien entworfen, wie Lernen im Kindes- und Jugendalter noch aussehen kann; wie es kindgerechter und zukunftsorientierter gestaltbar ist. Ein Konzept, das auf diesen Ideen fußt, ist das Prinzip des „freien Lernens“. Dieses baut darauf auf, dass jedes Kind eine Motivation zu lernen und zu entdecken in sich hat. Es verschreibt sich dem Grundsatz, Vertrauen in die inneren Wachstumskräfte des Menschen zu haben.

So gibt es beim freien Lernen keinen festen Rahmen, keinen Stundenplan, keine Lernziele oder Lehrpläne, an denen die Fortschritte eines Kindes gemessen werden. Das Kind lernt genau dann, wenn es dazu bereit ist, und genau das, was es selbst für wichtig erachtet. Dafür ist es unabdingbar, dass es sich in einer anregenden Umwelt aufhält. Es müssen sowohl Materialien als auch Personen zur Verfügung stehen, die einerseits Neugier wecken und andererseits Hilfestellung geben, diese auch zu befriedigen. Beim freien Lernen wird nichts vorgegeben, nichts erwartet, aber alles ist möglich und erwünscht.

Unschooling

Auf der ganzen Welt gibt es nur in Deutschland und Schweden einen Schulzwang. Deswegen ist es nicht einmal den Eltern selbst erlaubt, ihre Kinder zu Hause zu unterrichten. Dies wird hierzulande als Gesetzesbruch geahndet, während in allen anderen Teilen der Welt das sogenannte „Homeschooling“ eine gängige Alternative darstellt, wenn keine (geeignete) Schule zur Verfügung steht. Hierbei wird aber immer noch eine Art Lehrplan mit Leistungskontrollen vorgegeben und es findet in irgendeiner Form Unterricht statt. Beim freien Lernen spricht man hingegen vom „Unschooling“, da es keinerlei inhaltlichen oder formalen Rahmen gibt.
Es leben durchaus Familien in Deutschland, die eines dieser beiden Alternativkonzepte zur Regelschule praktizieren. Allerdings befinden sie sich damit in der Illegalität und ziehen nicht selten früher oder später ins Ausland, um sich nicht verstecken zu müssen. Die weiteren Probleme bei der Erziehung und Ausbildung der Kinder nur durch die Eltern liegen auf der Hand: Es ist zeit- und materialintensiv, es fordert einen hohen Bildungsgrad der Eltern, kombiniert mit einem umfassenden Allgemeinwissen.
Ein afrikanisches Sprichwort sagt: „Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen“. Das wäre natürlich das Ideal, wenn Kinder in einer Art Dorfgemeinschaft aufwachsen könnten, wo sie über verschiedene Altersstufen hinweg interagieren können und sich zu allen möglichen Tageszeiten aus verschiedenen Erwachsenen jeweils den mit dem notwendigen Wissen heraussuchen können, um ihre Neugier zu befriedigen. Doch Dörfer, die so etwas bieten könnten, gibt es in Deutschland heute eigentlich nicht mehr. Die meisten ländlichen Gebiete sind zu normalen Arbeitszeiten mehr oder weniger ausgestorben. Da bleibt niemand, der den Kindern etwas erklären könnte.
Da es ohnehin in Deutschland nicht legal ist, Kinder im Schulalter zu Hause zu behalten, haben sich inzwischen einige Alternativschulen etabliert. So gibt es beispielsweise Waldorfschulen, Montessori-Schulen oder eben freie Schulen. Allen gemeinsam ist ein Alternativkonzept zur Regelschule und sie sind vom Kultusministerium insofern anerkannt, als dass Kinder dort hingehen dürfen, um ihrer Schulpflicht nachzukommen. Allerdings kommt keine Schule ohne offizielle Schulzeiten aus, in denen Anwesenheitspflicht besteht. Ohne Anwesenheitspflicht kann nämlich keine Schulpflicht erfüllt werden.

Lernen an freien Schulen

Die freien Schulen, von denen es in Deutschland mittlerweile um die 90 Stück mit ungefähr 7.700 Schülern gibt, praktizieren als staatlich anerkannte Schulen das Konzept des freien Lernens. Das bedeutet, dass sie den Kindern ein anregendes Lernumfeld mit entsprechenden Hilfestellungen anbieten, ohne aber einem Lehrplan zu folgen oder Leistungsbewertungen vorzunehmen. An allen freien Schulen in Deutschland gibt eine Primarstufe, an mehr als der Hälfte auch eine Sekundarstufe.

Allerdings können hier keine offiziell anerkannten Abschlüsse gemacht werden, was für viele Eltern, die ihren Kindern eigentlich die Regelschule ersparen wollen, abschreckend ist. Nichtsdestotrotz steht es den Kindern bzw. Jugendlichen auf freien Schulen frei, sich für einen offiziellen Abschluss zu entscheiden, vorzubereiten und dann als Externer an einer Regelschule die Prüfungen abzulegen. Alternativ können die Prüfungen auch in der freien Schule unter Aufsicht von externen Prüfungsaufsehern geschrieben werden. Es gibt also Möglichkeiten und, wie so ziemlich alles beim freien Lernen, liegt es im Ermessen der Schüler selbst, was sie tun möchten.

Beim freien Lernen ist das Kind selbstbestimmt

Grundlegend soll beim freien Lernen der Impuls immer vom Kind ausgehen. Die Hauptaufgabe der Erwachsenen ist es, die vorbereitete Umgebung zu schaffen. Nach Maria Montessori soll die Umgebung so gestaltet sein, dass den Bedürfnissen der Kinder nach Liebe, Autonomie, Bewegung, Phantasie und Interaktion dem jeweiligen Alter entsprechend nachgekommen werden kann. In dieser Umgebung dürfen die Kinder das tun, wozu sie Lust haben. Lehrer werden hier gerne als „Lernbegleiter“ bezeichnet, da sie nur dort eingreifen und Hilfestellung geben, wo es ausdrücklich gewünscht wird. Innerhalb der freien Schulen gibt es durchaus Variationen dieser völlig freien Gestaltung des Lernens. Manche Schulen geben zwischendurch feste Zeiten für bestimmte Fächer oder Projekte vor. Damit soll bei den Kindern das Interesse für ein bestimmtes Thema geweckt werden. Das Erarbeiten der Inhalte kann dann in Kleingruppen stattfinden oder individuell mit dem Material und in der Zeit, die jedes einzelne Kind dafür braucht.

Dringlichstes Interesse der Freilerner ist es, das Kind mit seinen Ängsten und Bedürfnissen in das Zentrum des Lernens zu stellen. Gerade in jungen Jahren sind Kinder beispielsweise noch sehr bedürftig nach Nähe und Geborgenheit. Auch dem soll im Rahmen der freien Schule nachgekommen werden, weil ein Kind mehr progressives Verhalten in Form von Neugier und Exploration zeigt, wenn es sich sicher und geliebt fühlt. Dann kommen die Lerninhalte ganz automatisch aus der Interaktion des Kindes mit seiner Umwelt zustande. Grundsätzlich ist es auch Ziel in den freien Schulen, das Lernen zu lernen. Bei jedem selbstgewählten Thema werden Erfahrungen gesammelt, wie Probleme im Allgemeinen angegangen werden können. Wechselnde Situationen, unterschiedliche Abstraktionsgrade und die Auswahl aus unterschiedlichsten Hilfsmitteln geben einen Rahmen, in dem zunehmend komplexere Themen eigenständig erarbeitet werden können.

Ein weiterer wichtiger Grundsatz an freien Schulen ist es, keinen Zwang zur Disziplinierung einzusetzen. Besonders das Zusammenleben als Gemeinschaft, die soziale Interaktion der Kinder, auch über verschiedene Altersstufen hinweg, stehen in der freien Schule im Vordergrund. Gibt es Konflikte, wird versucht gemeinsam mit den Kindern und insbesondere mit deren Einsicht eine Lösung zu finden. Üblicherweise wird ein Denken in Kategorien wie „Gewinner – Verlierer“, „Täter – Opfer“ oder „recht – unrecht“ vermieden. Wichtig ist das Verstehen des Gegenübers und wie die Bedürfnisse aller in Harmonie miteinander gebracht werden können.

Funktionieren freie Schulen?

Nun machen sich viele Eltern Sorgen, dass das Kind womöglich nicht einmal die lebenswichtigen Grundlagen wie Schreiben und Grundrechnen lernen könnte, wenn man es nicht gezielt dazu anleitet. Zahlreiche Erfahrungen können dies mittlerweile entkräften. Manchmal mag es etwas Geduld erfordern, aber früher oder später lernen alle Kinder diese Kulturtechniken aus eigenem Antrieb. Gerade die altersgemischten Gruppen sind hier sehr hilfreich. Die Kinder können sich so gegenseitig Buchstaben und Zahlen erklären. Wenn jüngere Kinder beobachten, wie ältere ein Buch oder Comic lesen, wollen sie das auch können und lernen es dann eben.
Ein Nachteil von freien Schulen ist deren Finanzierung. Da es keine staatlichen Schulen sind, bekommen sie ihr Geld in der Regel in Form von Schulgeld von den Eltern, aus Spenden, Zuschüssen, Vereinsbeiträgen o.ä. Um diese Schulform für jeden zugänglich zu machen, richtet sich die Höhe des Schulgelds meist nach dem Einkommen der Eltern und der Anzahl der Kinder in der Familie. Von den Geldmitteln hängt wiederum ab, wie die Lernumwelt gestaltet werden kann. Es bestimmt, welches Material bereitgestellt wird, wie groß die Räume sind und welche Ausflüge gemacht werden können. Andererseits leben diese Schulen auch viel von der Mitarbeit der Eltern oder anderer Freiwilliger. Sei es die Präsentation des eigenen Berufes, eines Handwerks, das die Kinder auch ausprobieren können, die Hilfestellung in bestimmten Themen oder einfach nur die Zeit, sich intensiv mit dem Kind und seinem aktuellen Thema zu beschäftigen – alle Formen von Mitarbeit sind in freien Schulen gerne gesehen.

Mit den immer mehr werdenden freien Schulen in Deutschland gibt es zunehmend Orte, zu denen man seine Kinder sorgenfrei schicken kann. Zwar ist der zeitliche Rahmen meist ähnlich zu dem der Regelschulen, aber inhaltlich und aus pädagogischer Sicht bieten freie Schulen eine echte Alternative zu strengen Lehrplänen und Zensuren. Nebenbei bemerkt sind längere Beurlaubungen an freien Schulen viel einfacher zu erhalten, da ja kein Stoff in dem Sinne verpasst wird. Trotz der großen Freiheit bei der Wahl der Inhalte lernen Kinder beim freien Lernen alle notwendigen Kulturtechniken, üblicherweise noch viel, viel mehr. Diese Form der Schule ist letztendlich auch ideal, um hochbegabte wie auch langsamer lernende Kinder optimal zu fördern.